ONE MILLION
Über das älteste und das neueste Handwerk der Menschheit
Ein Projekt zu formulieren, als Künstlerin im 21. Jahrhundert, fühlt sich auch an wie Befehlen und Ausführen zugleich. Im Projekt 300 folge ich meinen eigenen Befehlen. Porzellan wurde in Europa vor 300 Jahren erfunden, in meinem spekulativen Projekt möchte ich 300 Jahre Zukunft für Porzellangefäße gewährleisten.
Stichwort: Persistierung von Handwerkswissen.
Ich drehe eine Million Porzellangefäße. Jedes Gefäß gehört für jemand oder etwas. Der Standort jedes Gefäßes ist auf einer Weltkarte eingetragen. Zieht ein Gefäß um, werden wir informiert. Geht ein Gefäß kaputt, kommen die Scherben zu mir zurück, und ein neues Gefäß wird an den Absender geschickt. Jedes Gefäß ist ein Auftrag. Dieser Auftrag besteht darin, ein chronologisch nummeriertes Gefäß in Umlauf zu bringen und die Informationen rund um dieses Gefäß digital zu verwalten.
Was will ich? Ich will, dass man – wenn ich einmal nicht mehr da bin – mit einem Chatbot sprechen kann, der das Gespräch darüber, welches Gefäß man möchte, intelligent verarbeitet und darauf basierend eine individualisierte Gefäßform vorschlägt, und den Entwurf als digitales Objekt ausführt. Mit diesen Entwürfen geht man zu Weißdrehern, da wo man ist auf der Welt. Oder aber es gelingt mir, Roboterhänden das Drehen beizubringen. Von der Sprache zum Hohlraum-Rotationskörper.
Ich möchte einen Handlungsspielraum erzeugen, der 300 Jahre besteht – der sich selbst aktualisiert, erneuert, nachjustiert und solange weitermacht, bis eine Million Gefäße auf dem Planeten im Einsatz sind. Die Frage ist, ob das durch den Einsatz digitaler Werkzeuge möglich ist. Wie wird digitale Information über Generationen hinweg weitergegeben? Ist es möglich, Zusammenhang, Verbindlichkeit und Kommunikation über so lange Zeiträume hinweg aufrechtzuerhalten?
Menschen besitzen und benutzen ONE MILLION Gefäße. Die Kommunikation innerhalb des Projekts 300 dient der humanistischen Idee der Verbindlichkeit zwischen Menschen – als überlebensnotwendigem Faktor. In der Weltperformance begegnen sich Menschen aus allen Milieus, die diese Frage, dieses Versprechen in Form eines Porzellangefäßes in ihren Händen halten.
Das ONE MILLION Interface (Chatbot) wird mit folgenden Daten trainiert:
- Die gesammelten Metadaten von 11.300 ONE MILLION Gefäßen seit 2014 werden ausgewertet.
- Meine Bibliothek, derzeit mit etwa 5.000 Publikationen, dient als Grundlage, um zu verbalisieren, in welchem Kontext jede einzelne Publikation für das Projekt 300 relevant ist.
- Hohlraumgefäße werden gescannt, Metadaten werden angelegt.
- Diese Metadaten umfassen sämtliche Objektdaten auf allen Ebenen: Auftraggeber, Machart, Material, Handwerk, Wert, Besitzer, Besitzerwechsel, Verwendung, Beschädigung, Milieu, Orte und Ereignisse.
- Die CAD-Daten werden so aufbereitet, dass sie textbasiert modifiziert werden können.
- Der Chatbot soll in der Lage sein, auf Grundlage eines Gesprächs Formen vorzuschlagen.
- Diese Vorschläge können von Dreher*innen gefertigt oder von Roboterhänden ausgeführt werden.
- Wie weit ist es möglich, die physischen Objekte über den gesamten Planeten zu verteilen – in einem hierarchiebefreiten Ordnungssystem, das sich verbindlich durch alle Milieus zieht?
- Und schließlich die Frage: Wie weit sind die Besitzer*innen der ONE MILLION Gefäße bereit, sich verbindlich zu verhalten – die Verantwortung für das Weitergeben dieser Gefäße durch die Zeit hinweg zu übernehmen?
Uli Aigner, Berlin November 2025
Lunchtime Lecture
Curriculum Vitae
Von 2001 bis 2003 hatte sie eine Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste München inne, die neue Impulse für ihr künstlerisches Schaffen setzte. In der Folge leitete sie von 2006 bis 2010 die Städtische Kunsthalle München – Lothringer 13. Seit 2011 lebt und arbeitet sie mit ihrer Familie in Berlin. Im Zentrum ihres künstlerischen Schaffens steht seit 2014 das lebenslange analog-digitale Projekt ONE MILLION, in dessen Rahmen sie Porzellanobjekte, räumliche Installationen und Buntstiftzeichnungen produziert.
Sie ist offizielle Teilnehmerin des Kulturprogramms PURPLE PATH der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Im selben Jahr wurde sie mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Niederösterreich ausgezeichnet. Zudem ist sie Produzentin des Films HOLOFICTION von Michal Kosakowski, der bei den 82. Internationalen Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wird.